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Hinter dem Schmerz


Ein „Fuck you“ an alle Abramović-Erwartungen.

von Dr. Larissa Kikol

Die Geschichte der weiblichen Performance, genauer gesagt, der feministischen Performance,
ging immer wieder durch markierende Passagen des Schmerzes und Leidens. Der eigene
Körper war zwar unter allen Geschlechtern zum favorisierten Material geworden, mit dem
streng und strapaziös umgegangen wurde. Auch Männer fügten sich für die Kunst Wunden
und Schmerzen zu, doch sind es die weiblichen Performances, wie von Yoko Ono, Gina Pane
oder Carolee Schneemann, die die körperlichen Strapazen in der politischen und
soziokulturellen Kunstgeschichtsschreibung unwiderruflich festschrieben, weit über eine ‚nur‘
feministische Kunstgeschichte hinaus. Marina Abramoivć repräsentiert dieses Ikonenbild
wohl am stärksten. In ihrer Biografie schrieb sie, „dass der Schmerz so etwas wie eine heilige
Tür zu einem anderen Bewusstseinszustand“ 1 sei. Die Intensität der Schmerzen während
einiger ihrer Performances sei so stark, dass das Gefühl der Ohnmacht nahe sei. 2 Bei God
Found by the Artists in Sydney saß sie mit ihrem damaligen Partner Ulay an einem Tisch
gegenüber, acht Stunden täglich, sechzehn Tage lang sich dabei in die Augen blickend, auf
dem Tisch eine Schlange liegend. Darüber hielt sie fest: „Ich kann mit dem Schmerz besser
umgehen […] Ich hatte buchstäblich mehr Sitzfleisch, und ich hatte keine Hoden.“ 3
Heute, in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts hat sich vieles verändert. Dank der
unverzichtbaren Vorreiterinnen, die viel von ihrem Körper, ihrer Intimität und ihrer
Gesundheit hergaben, um die einstige, marginalisierte Frauenrolle in der bildenden Kunst
grundlegend neu zu schreiben, können Künstlerinnen sich von dem Schmerz befreien.
Sophia Süßmilch, Performancekünstlerin und Malerin steht in diesem Erbe, und repräsentiert
eine neue Generation, die nun auch mehr Humor, Selbstironie und Verspieltheit einsetzen
darf, bzw. will und dabei trotzdem nicht befürchten muss die Stärke ihrer Haltung oder die
Ernsthaftigkeit einer Rezeption zu gefährden.
In ihrer Ausstellung Sanatorium Süßmilch wird sie 30 Tage im Museum Francisco Carolinum
wohnen. Besucher haben täglich nur 2 Stunden Zugang zu den Räumlichkeiten. Montags ist
geschlossen. Während ihrer Anwesenheit wird Süßmilch 1,5 Stunden massiert. Die Besucher
können sich unter ihren Massagetisch hocken oder legen, wenn sie das wollen und ein
Gespräch mit der Künstlerin führen. Man wird ihr Gesicht gedrückt durch das Loch des
Tisches sehen. Eine eigentümliche Haltung für eine Konversation; für beide Seiten. Vielleicht
wird es etwas unangenehm, aber eher für die Künstlerin, die sich nun alles anhören muss.
Oder auch nicht, vielleicht wird sie auch ein Nickerchen machen. Eine Sauna steht ihr
ebenfalls zur Verfügung, jedoch ohne Besucher. Statt Schmerz also Massage, statt Leid Self-
Care. „Die Abramović-Erwartungen, die man besonders an eine weibliche Performance hat,
werden nicht erfüllt“, stellt Süßmilch mit mir im Gespräch klar.
Schlafen wird sie in der Installation Deep fried woman, einem ‚Vagina dentata Bett‘, wie sie
es auch nennt. Ein Nest, ein kleiner Raum, 1 Meter 50 hoch und nur durch eine
Schwimmbadtreppe zu besteigen. Von Innen sind die Wände blau und mit Zähnen behangen,
wie ein Sternenhimmel. Auf der runden Matratze wird Sophia die Nächte verbringen.
Wahrscheinlich ohne Muskelverspannungen – eine Begleiterscheinung, die wohl die häufigste
Nebenwirkung von Performances ist. Die Masseurinnen helfen.
Sophia Süßmilch steht für eine sehr zeitgenössische Kunst, die feministisch ist, die provokant
ist, die konsequent ist, aber in der auch das Augenzwinkern wie ein dreister Joker im Spiel der
Kunstwelt selbstbewusst auf den Tisch gelegt wird.

Doch zunächst zu ihrer Bettinstallation, der Deep fried woman.
Der Gedanke an Rapunzel liegt nicht fern, den leidigen Mythos der weiblichen Haarpracht.
Ein Mädchen wird von einer bösen Hexe in einem Turm eingesperrt. Ihre wunderschönen
Haare wachsen bis zum Boden. Auch ihre Stimme wird gelobt, durch ihren Gesang wird ein
Prinz verführt, der an ihren Haaren hinaufklettert und sie retten will. Doch die Hexe verbannt
sie in die Wüste und der Prinz vergeht in seinem Kummer. Erst nach ein paar Jahren und einer
Erblindung findet er seine Geliebte, bekommt durch ihre Tränen sein Augenlicht wieder und
rettet sie in sein königliches Reich. Natürlich sind die Grimm-Märchen absolut kein
Empowerment für Frauen. Natürlich sind die Frauen in Not, können sich nicht selbst befreien,
brauchen den Retter, den Mann. Sie werden durch Schönheit und Lieblichkeit definiert, der
Mann durch seinen Mut, seine Taten, sein Heldentum. Auch diese soziokulturellen
Rollenbilder von Frauen, die sich viel zu lange hielten, brachten die Frauen in den 1970er
Jahren dazu, sich triumphierend ihre Haare abzuschneiden. Und auch heute gibt es noch viel
Druck, Ideale, Tabus und sogar Hass. Frauen die Achsel-, Bein-, Scham- oder
Oberlippenhaare nicht rasieren, werden fast automatisch zu einer emotionalen und politischen
Projektionsfläche. Sie ernten Beifall oder einen Shitstorm. Auch ist der hormonelle
Haarausfall bei Frauen nach den Wechseljahren ein ästhetisches Stigma, welches bei Männern
erheblich einfacher zu akzeptieren scheint. Das weibliche Haar polarisiert, es ist niemals
unpolitisch. Auch das ist keine Gleichstellung, wird über das Männerhaar und sein
Vorhanden- bzw. nicht Vorhandensein doch sehr viel toleranter und gleichgültiger
hinweggesehen.
In Sophia Süßmilch Installation, werden die künstlichen Haarbündel von (billig gern
weglassen) Perrücken so oft multipliziert, dass sie das Rapunzelartige und somit das
Verführerische verlieren, und dafür zu einer wachsenden, invasiven, fast schon ekligen
Spezies werden. Das Anti-Rapunzelhaar funktioniert als Schutzmauer für Süßmilchs
Rückzugsort.
Das Sanatorium Süßmilch, nennt die Künstlerin auch einfach „Irrenanstalt“ – ein liebevoller
und gruseliger Titel zugleich. Einerseits ein Zuhause für die Künstlerin, die sich darin aber
auch als Patientin betitelt und Anstaltskleidung trägt. In sorgsamer Manier hat sie sich
eingerichtet, ihr Bett gebaut und Vorkehrungen zur Verpflegung getroffen. Auch engagiert sie
Wächterinnen, die sie vor eventuellen Übergriffen schützen, wenn sie nur mit einer Unterhose
bekleidet auf einem Massagetisch liegt und dabei Besucher ein und aus gehen. Das Museum,
ihre Ausstellung wird zum Rückzugsort für Heilung, für Ruhe, zum Malen und Schlafen.
Aber in dem Titel ‚Sanatorium‘ steckt auch die gruselige, dunkle Vergangenheit der
Psychiatrie-Geschichte. Man denke an die Zeit des dritten Reichs und der NS-Euthanasie. Die
Sterblichkeitsrate stieg horrorgleich an, beispielsweise in der Irrenheilanstalt zu Wehnen von
10% auf 31%, wie der Historiker Ingo Harms rückblickend herausfand. 4 Eingewiesene
verhungerten, nicht weil sie selbst die Nahrung verweigerten, sondern weil ihnen keine
ausgehändigt wurde. 5 In den 1930er Jahren kam ebenfalls die Elektroschocktherapie auf, die
sich bis heute besonders eindringlich durch den Film Einer flog über das Kuckucksnest in die
kollektive Erinnerung festsetzte. Ein Verfahren, dass besonders in seinen Anfängen, in der
Nazi-Psychatrie, aber auch noch in der DDR für Missbrauch, Bestrafung und Folter eingesetzt
wurde.
Doch das sind nicht die einzigen dunklen Kapitel in der Psychatriegeschichte. Auch die
Zwangseinweisungen der Frauen zählt dazu. Lange Zeiten konnten die Ehemänner über den
psychischen Gesundheitszustand ihrer Frauen urteilen und sie Einliefern lassen, natürlich
gegen ihren Willen. Die Wissenschaftsjournalistin Ruth Kuntz nannte in ihrem Artikel Frauen
das verrückte Geschlecht? nur zwei von tausenden Beispielen. Sie erinnert an die Pfarrersfrau
aus dem Teilstaat Illinois, die ihrem Mann in der Öffentlichkeit widersprach und deswegen

von ihm in ein Irrenhaus eingewiesen wurde. Im 19. Jahrhundert hatten die Männer im Staat
Illinois eben diese Macht. Auch noch 100 Jahre später in Pennsylvania schickte ein Mann
seine Frau in die Klinik, «weil sie sich selbst vernachlässige und sexuell verweigere».
Miteinher gingen natürlich die „Diagnosen“ der hysterischen Gebärmutter, letztlich doch von
dem britischen Historiker Roy Porter als „biologische Folklore“ denunziert. 6
Wenn Sophia Süßmilch nun ihre eigene Irrenanstalt einrichtet, und das eben nicht als
Patientin, sondern aus ihrem Künstlerstatus, das heißt aus einer eigenständigen, privilegierten
Position heraus, dann handelt es sich um ein Zurückholen von Selbstbestimmung und um die
Aneignung von etwas, was besonders historisch für viele Opfer sich jeder Aneignung
verschloss. So legt sie auch ihren Tagesablauf selbst fest. Ihr Plan sieht beispielsweise vor:
9:00 Uhr – Urschreiyoga, 9:30 – Kunsttherapie, 10:00 – Zigaretten und dabei Therapie mit
sich selbst, 10:30 Uhr – erster Saunagang. Den Plan ändere ich noch diese Woche!
Als Patientin ordnet sie sich selbst an, was ihr guttut, in ihrem Fall Massagen und
Saunagänge. Auch diese Praxis ist nach der Erinnerung an die dunkle Psychiatriegeschichte
nicht mehr nur ein Spaß, nicht mehr nur ein „Fuck you“ an alle Abramović-Erwartungen,
sondern auch ein „Fuck you“ an das alte Patriachat, an alle Ehemänner, die ihren Frauen
durch die Einweisung großes Leid zufügten. Und natürlich an alle Uterus-Gelehrten.
Sophia Süßmilch baut sich nun ihre eigene Uterus-Welt und bespielt sie zusammen mit ihrer
Mutter. Beide agieren als Hauptrollen in der Performance Uterusparfait. Nach einem
schwitzigen Saunagang werden sie zu einem Tonbeet gefahren und darauf gehoben.
Währenddessen ziehen sich 20 Darstellerinnen, vorher als Besucherinnen verkleidet, aus.
Nackt holt sich jede ein Spekulum – das Instrument, welches bei medizinischen
Untersuchungen die Vagina öffnet. Mit diesen Spekuli graben die zwanzig Helferinnen Mutter
und Tochter in den Ton ein. Ihr Gesicht bleibt frei. Sie sitzen sich gegenüber, eingehüllt in der
Erdmaterie, zurückgekehrt in die Gebärmutter. An den Ort der Schwangerschaft, der Mensch-
und Daseinswerdung. Dort wo vielleicht schon das Schicksal bestimmt wird, wo Gene sich
mischen, wobei sie Defekte bekommen können. Bei dieser Reise, geführt von dem Spiel einer
Geigerin, bleibt offen, ob es die Mutter ist, die ihre Tochter zurückholt und sie diesmal Auge
in Auge durch eine unterbewusste, pränatale Erinnerung begleitet, vielleicht sogar ihre
Prägungen aufdecken wird. Oder ist es die Tochter, die ihre Mutter in sich aufnimmt und ihr
den Schutz der Gebärmutter zurückgibt, sie ernährt und wiegt? Vielleicht ist es aber auch eine
Rückkehr für sie beide, eine Reise zum Ursprung des Ichs, aber in einem dritten Uterus. So
würde jede ungleiche Abhängigkeit aufgehoben, die eine Mutter und ihr Baby zu Anfang als
Naturgesetz verbindet. Das gemeinsame Erleben der Abhängigkeit sorgt jetzt, und vielleicht
nur so, für eine befreiende, verbundene Unabhängigkeit.
Sind Mutter und Tochter eingegraben, holen die 20 Frauen kleine Sträucher und stecken sie in
den Ton. Auch dies ein Zeichen für den Lebensanfang. „Wenn ich wüsste, dass morgen die
Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“. Dieser Ausspruch wird
Martin Luther zugeordnet. Ob er wirklich von ihm stammt, spielt hier keine Rolle. Das
Pflanzen in der Erde, die Sträucher im Uterusbeet, das ist nicht nur ein Zeichen, nicht nur eine
gärtnerische Tätigkeit, sondern ein Ritual, das einen selbst reinigen und heilen kann.
Statt des klassischen, großen Topos des Todes wird in Sanatorium Süßmilch die Geburt
thematisiert, ein Thema welches in der langen, männlichen Philosophiegeschichte kaum
vorkam. Der Tod hingegen schon, er gehört zu den beliebtesten Reflektionsobjekten der
Männer, eben weil sie keinen Uterus haben und ihnen somit nur der Blick in den Tod als
Sinnstiftung übrigbleibt. Ein Missverständnis also, eine männliche (absichtliche)
Fehldeutung, die vorgibt, dass der Tod komplexer oder denkwürdiger sei, als die Gebärmutter.
Denn was kann komplizierter oder wichtiger für die Welt, die Menschheit, das Ich und die
Sinnstiftung sein, als das, was der Uterus als Phänomen darstellt.

Zu weiteren Fragen und Welträtseln kommt Sophia Süßmilch auch durch die Ergebnisse einer
vorangegangenen Recherchearbeit: Die Suche nach Lösungen für die ganze Welt, am liebsten
auf eine einzige Weltlösungsformel zusammengebracht.
Vorab muss ich als Autorin dieses Textes jedoch sagen, dass mich Sophia Süßmilch vor eine
besondere Aufgabe stellte. Denn nichts, über das ich hier schreibe, ist bereits fertig oder
geschehen. Wir sprachen im Vorhinein, vor der Ausstellungseröffnung, vor ihrem Einzug in
das Museum. Denn wenn es so weit ist und die Künstlerin in den musealen Räumen ihre
Anwesenheit antritt, wird dieser Text längst fertig geschrieben sein. Ich weiß also nicht, wie
sie ihre Tage verbringen oder wie das Publikum reagieren wird, wie gut oder schlecht die
Massagen sein werden oder wie oft sie auf den Museumsbalkon zum Rauchen tritt. Die
Weltlösungsformel wird ebenfalls erst während der Ausstellung von ihr gefunden werden, mit
Hilfe einer überdimensionalen Mindmap, 4 x 10 Meter groß, die sie während ihrer
Selbsteinweisung in der Irrenanstalt erstellt. Eine andere Beschäftigung der Patientin wird das
Malen sein. 25 Portraits werden entstehen. Doch dazu später. Erst einmal möchte ich weiter
über die Weltlösung nachdenken.
Hierfür wählte sie 26 Gesprächspartner, davon 25 Frauen, stellte allen die gleichen Fragen
und nahm ihre Antworten auf Video auf. Die Szenen werden auf Monitoren ausgestellt. Der
Besucher kann sich alle Antworten auf die essentiellen Fragen selbst anhören. Darunter:
Welchen Sinn hat Kunst, wenn die Welt untergeht? In welche Abschnitte kann man das Leben
unterteilen? Inwieweit ist die kindliche Prägung entscheidend für das spätere Leben? Wie
würde ein gerechtes Leben für alle aussehen? Woher kommt die Angst vor dem Tod, und wie
kann man sie besiegen?
Die Antworten fallen unterschiedlich aus, auch komplette Wiedersprüche sind darunter –
natürlich, sind es doch Fragen, die selbst unter Wissenschaftlern oder Philosophen kontrovers
diskutiert werden, in deren Fragenatur es liegt, dass sie wahrscheinlich, zumindest für ein
menschliches Gehirn, niemals eindeutig gelöst werden können. So ergeht es auch Sophia
Süßmilchs Gesprächspartnern wie eine Soziologin, eine Tänzerin, eine Pfarrerin, eine Juristin
oder eine Künstlerin, die unterschiedliche Vorstellungen haben und die gar keine andere Wahl
haben, als die Fragen subjektiv zu beantworten. Die Arbeit an der Weltlösungsformel ist also
eine Arbeit, die zum Scheitern führen wird. Am Ende, und das kann ich als Autorin im
Vorhinein schon verkünden, wird die Künstlerin durch diese Prüfung durchfallen. Und so ist
es auch gewünscht. Sophia Süßmilch betitelt ihre 25 Auserwählten als ihre Ärzte und ihre
Gurus. Doch niemand kann ihr bei der Weltrettung helfen, was nicht ausschließt, dass einige
Antworten ihr oder den Besuchern zu Denken geben können. Die Tragik sich mit den großen
Lebensfragen herumzuplagen und doch allerhöchstens nur punktuell zu kleinen, individuellen
Erkenntnissen, das heißt zu schmalen Befriedigungen zu gelangen, wird in Süßmilchs Art mit
Ironie aufgenommen. Und dann ist auch erstmal wieder Zeit für eine Massage.
Ihr Ansatz steht konträr zu denen des 20. Jahrhunderts, von der Avantgarde der Moderne bis
zu Abramović gab es immer wieder Ambitionen und Haltungen, die behaupteten zu wissen
was richtig und was falsch ist, was möglich ist und was nicht und wie man „richtig“ leben
solle. Süßmilch eröffnet keine Schule, keine Akademie und bietet keine Workshops an. Oder
um es mit aktuelleren Worten auszudrücken: Sie sucht und verspricht keine
Selbstoptimierung. Vor den großen Fragen steht sie genauso ratlos oder nachdenkend da, wie
auch die Besucher. Sie selbst ist kein Künstlerguru, kein selbsternanntes Genie, keine Mehr-
Wissende, die meint, dass sie durch ihr Künstlersein, den anderen voraus ist. Das macht ihre
Haltung als Künstlerin nicht nur sympathisch, sondern auch sehr ehrlich und mutig.
Neben der Mindmap arbeitet Süßmilch während ihres Aufenthalts im Irrenhaus auch an einer
neuen Portraitserie. Alle 25 Gesprächspartner werden von ihr gemalt, wie in einer
Maltherapie. Da ich diese Bilder ebenfalls noch nicht betrachten kann, widme ich mich einer
freieren Reflektion ihrer bisherigen Malerei, besonders den Darstellungen von Körpern. Ihr

Stil ist surrealistisch, zweidimensional und stellt die Figur in den Mittelpunkt. Die einzelnen
Glieder werden nebeneinander ausgebreitet, wie die Bestandteile eines Baukastens. Die
malerische Komposition ist eine Arbeit am Dekonstruieren und sorgsamen Neu-Konstruieren.
Erst wenn von der Anatomie losgelassen wird, kann das reflektieren über den Körper als
formbares Material beginnen. Abstrahierende Malprozesse lassen Unformen entstehen, die
sich am Menschen orientieren, ihn aber als Symbiose aus mehreren, eigentümlich, teils
trotzenden Wachstumsorganen verstehen.
Süßmilchs Komposition der Körper erinnern an Kinderzeichnungen. Wenn der Platz auf dem
Blatt zu knapp wird, sind das Quetschen, Ausstrecken und Verzerren gute Mittel, um alles
noch unterzubringen. Vorher wurde scheinbar unbedacht angefangen, dabei die Körperteile
groß gemalt, die am meisten interessierten. Der Rest wird drum herum gebaut, Anatomie
spielt keine Rolle. So entstehen auch animalische Wesen, Ungeheuer, mal fast geschlechtslos,
mal als großes Geschlecht inszeniert. Sophia Süßmilch zeigte mir ein Beispielbild, eine
stilistische Orientierung für die Portraitserie (Abb. 1). Einnehmend waren die großen
Schenkel, die wie eigene Lebewesen pulsieren. Galt der Frauenschenkel lange und
traurigerweise als peinliche Problemzone, von der man nicht zu viel haben wollte, als ein
Körperteil das vor allem glatt und schmal zu sein hatte, fand der kräftige Schenkel, ins
besonders durch die Popikone Beyonce, zu einem würdevollen, anmutenden Status zurück.
Süßmilch malt Körper, wie sie sie fühlt und wie sie leben, transformiert sie in ihre malerische
Sprache, die einerseits durch kindliche Unschuld lockt, andererseits gruselige Entstellungen
andeuten. Lange Schlangenarme hängen wie bei müden Affen hinunter, Brüste werden zu
Landeplätzen, Arme zu langen Autobahnen und Beine zu Fleischapparaten. Gesichter
gleichen Masken, Robotern oder Kinderfreunden. Ein bisschen Art Brut ist dabei, ein
bisschen Bauhaus und Surrealismus. Süßmilch spielt mit den Einflüssen und Stilen und
kommt dabei doch zu einer sehr persönlichen Bildsprache, die sich wiedererkennen lässt.
Das Sanatorium bietet viel, und eben doch nicht alles. Genau diese Unvollkommenheit, das
Scheitern an der Weltlösungsformel, mag die stärkste Botschaft sein. Der Künstler allein, die
Kunst an sich, kann den Planeten oder die Menschheit nicht retten. Dafür braucht es mehr.
Interdisziplinare Wissenschaftskooperationen, Politik, Unternehmen, Menschen, Staaten. Die
Self-Care hängt ebenfalls von finanziellen, zeitlichen und soziokulturellen Privilegien ab.
Alldem ist sich Sophia Süßmilch bewusst, ja, all das macht sie deutlich. Insofern ist ihr
Sanatorium sehr reich. Reich an Verspieltheit, reich an Ernsthaftigkeit, reich an
Wahrhaftigkeit.

SOPHIA SÜSSMILCH UND DAS LEBEN NACH DEM TOD


von Leo Wedepohl

Die Ausstellung SOPHIA SÜSSMILCH UND DAS LEBEN NACH DEM TOD zeigt einen breiten Einblick in das komplexe und diverse Werk der Künstlerin. Neben Malerei und Skulptur sind Textil-, Foto- und Videoarbeiten zu sehen, die die Räume der G2 Kunsthalle einnehmen und in den Bildkosmos Sophia Süßmilchs einführen.

Die Struktur des Titels eröffnet Assosziationen zu Betitelungen von Geschichten und Erzählungen in Literatur oder Film, bei der zuerst die Hauptfigur genannt wird und durch den Kontext der Episode ergänzt wird. In diesem Fall ist die Künstlerin die Heldin, die den Tod durch ihre Kunst überwindet und das Leben nach diesem bestreitet.

Süßmilch arbeitet sich in der hiesigen Ausstellung an großen, existentiellen Fragen der menschlichen Existenz zu der Frage des Ursprungs, dem Geschehen nach dem Tod und dem Sinn von Leben ab.

Im ersten Raum begegnet die Betrachtenden ein scheinbar neugeborenes Wesen. In Voltegiergurte eingepfercht, hängt es an vier Seilen im Raum.
Die Kreatur ist schutzlos, wirkt leblos und wäre in diesem frühen Lebensstadium nicht selbständig lebensfähig. Süßmilch zeigt hier die Fremdartigkeit des Ursprungs von Leben, die durch die Fetischisierung der verwendeten Materialien und die Skalierung des Formats, Ekel, Abstoßung aber auch eine Attraktion im Sinne einer Zurschaustellung des Andersartigen auslösen kann. Wie in einem Brutkasten ist das Tier ausgestellt und drängt die Betrachtenden so in eine voyeuristische Situation.

Im selben Raum der Ausstellung stellt Süßmilch die Betrachtenden vor eine Wahl: Um das von ihr ausgerufenen Leben nach dem Tod, welches sich im zweiten Raum der G2 Kunsthalle abspielt, zu bestreiten, wird zur Auswahl eines*r Kämpfers*innen als Weggefährt*innen appelliert. Durch die illusionistische Wahlmöglichkeit eröffnet Süßmilch Assoziationen zu Videospielen. Die Kämpfer*innenfiguren bleiben jedoch sehr vage und entsprechen nicht der Vorstellung fiktiver Held*innen oder kriegerischer Personen der Geschichte, die häufig durch einen überzogene heroistische und stereotypische Darstellung charakterisiert sind. Die anfänglich leicht wirkende Wahl irritiert bei Betrachtung des Angebots und hinterlässt einen gleichzeitig rätselhaften, wie humorvollen Beigeschmack.

Im zweiten Raum tauchen wir dann vollends in Süßmilchs Version des Lebens nach dem Tod ein.
Drei großformatige Lederflaggen dominieren den Raum. Wie Wandteppiche okkupieren sie die gesamte Wand und ziehen sich bis auf den Boden. Auf den Flaggen sind Kuhhäute angebracht, die als Träger figurativer Elemente in einfacher Bildsprache dienen.
Die Zitate am Fuße der Flaggen stehen dabei in direktem Zusammenhang zu den Bildern. Auf der ersten Flagge steht ein Zitat aus dem Animationsfilm An American Tail (1986): „There are no cats in America and the streets are paved with cheese.“ Der Film behandelt die Geschichte einer russisch-jüdischen Mäusefamilie, die in die USA auswandert. Süßmilch manifestiert hier in monumentaler, archaischer und doch feiner Art und Weise die Hoffnung und das Versprechen auf ein besseres Leben außerhalb der gewohnten Umgebung. Dies lässt sich sowohl auf religiöse und profane Vorstellung von einem besseren Leben nach dem Tod, als auch auf eine Verbesserung der eigenen Umstände zu Lebenszeit beziehen.
Auf der zweiten Flagge findet sich ein Zitat des amerikanischen Sängers Prince (1958–2016): „I only wanna hear you Laughing in the purple rain.“ Der Musiker beschrieb die Vermischung von Rot und Blau der Morgen- oder Abenddämmerung zu Lila als Symbol für apokalyptisch anmutende Endzeitszenarien, die sich nicht nur auf das Ende von Welten, sondern auch auf das Ende von Beziehungen oder Freundschaften beziehen lassen und die, trotz der Verlustes, einen Neuanfang ermöglichen. Auf der dritten Flagge im Raum steht das Zitat: „I don’t believe in Dinosaurs.“ Dieses stammt von einem Kind, dass beim Anblick eines Dinosaurierskeletts im Museum für Naturkunde in Berlin an der Existenz der Tiere und der Glaubwürdigkeit des wissenschaftlichen Beweises zweifelt. Der Künstler Moritz Frei (*1978) hat dieses Zitat in einer Leuchtarbeit aufgegriffen, die auf dem Dach der Hamburger Kunsthalle zu sehen war.

Im Raum drehen sich behaglich zwei große stilisierte Auberginen. Diese werden durch eine Öffnung am Bauch der Pflanzen und die ausrufenden Appelle „Iss mich!“ und „Nenn mich Mutter!“ zu personifizierten Charakteren. Im Bauch lagern echte Auberginen, deren Haut mit der Zeit verschrumpelt und faltig wird und somit im Kontrast zu den glatten Oberflächen der Auberginenskulpturen stehen. Gleichzeitig ist die Drehbewegung der Skulpturen Indikator für die Zeit, und somit Seismograph für den Prozess der Vergänglichkeit und der Verwesung die in jedem Moment fortschreitet.

Abgeschlossen wird die Ausstellung durch das Triptychon Aftermath. Süßmilch zeigt hier den Moment des Todes, ihre Version des Himmels und der Hölle. Der mittlere Teil des Triptychons, stellt den Moment des Todes einer am unteren Bildrand befindlichen Spinne dar, aus deren Hinterleib sich ein Netz aus Wortpaaren aufspannt, die Dualitäten bilden. Der rechte Teil zeigt Süßmilchs Version der Hölle. In einer Vielzahl von Zeilen, die durch die Aufteilung an Hieroglyphen erinnert, stellt Süßmilch verschiedene Objekte und Lebewesen dar, die begraben unter der Erde liegen. Dabei ist die oberste Zeile das Diesseits, in der Menschen und tierartige Wesen leben, welches sich jedoch kaum von der Unterwelt unterscheiden lässt.

Komplementiert wird das Triptychon auf der linken Seite durch die Darstellung des Himmels.
Hier lösen sich konkrete Strukturen auf und es herrscht eine Entmaterialisierung und eine Abnahme individueller Merkmale, hin zu einem kollektiven, offenen und abstrakten System, das als fruchtbarer Nährboden für Vegetation und somit als Symbol für einen Neuanfang dient.

15 Jahre Psychoanalyse und immer noch kein Gott in Sicht 


Barbara Hess

Der Titel von Sophia Süßmilchs Ausstellung parodiert die Dauer und den mäandernden Verlauf der psychoanalytischen Kur – die aber auch Möglichkeiten eröffnet, alles zu sagen. Zugleich spielt er auf eine Midlife-Crisis-Situation an. Angesichts der „Hälfte des Lebens“ zieht sich eine Mischung aus ernster Komik und komischem Ernst durch die Ausstellung mit neuen Arbeiten von Sophia Süßmilch (1983). Das fotografische Motiv der Einladungskarte, Niki de Saint Phalle hat mein Leben ruiniert (2022), zeigt die Künstlerin, die auf ihrem Rücken nicht nur ein riesiges aufblasbares Rhinozeros-Schwimmtier, sondern auch ihre darauf sitzende Mutter trägt. Süßmilch konfrontiert das Publikum mit weiblicher Nacktheit in einem nicht konventionellen Mutter-Tochter-Porträt, das durch die Ähnlichkeit des Schwimmtiers mit Skulpturen von Niki de Saint Phalle zusätzlich aufgeladen wird. Offen bleibt die Frage nach dem „ruinösen“ Einfluss der französischen Künstlerin: Diese wurde nicht nur mit teils aggressiven, teils populären feministischen Werken bekannt, sondern auch dadurch, dass sie den Missbrauch durch ihren Vater öffentlich machte. Dies hat die Trivialisierung ihrer künstlerischen Arbeit zu Museumsshop-Artikeln allerdings nicht verhindert – und darin sieht Sophia Süßmilch vielleicht die größte Gefahr. Auch andere Fotoarbeiten untergraben weibliche Rollenklischees und zielen auf Selbstermächtigung ab. Mysterious girl I wanna get close to you (2022) zitiert einen Reggae-Hit der 1990er Jahre von Peter André, dessen Videoclip vor einer exotischen Kulisse männliche und weibliche Körperideale ausbeutete; Welken (2022) verweist selbstironisch auf biologische Alterungsprozesse. Ein Zeichen für Empowerment setzt Allein machen sie dich ein (2022), ein Foto von mehreren Personen, die durch ein umhüllendes Tuch und eine Maske zu einem einzigen Wesen verbunden sind. Allein machen sie dich ein ist auch der Titel eines Songs von Ton Stein Scherben und eines Films; beide handeln von einer Hausbesetzung in Berlin-Kreuzberg Anfang der 1970er-Jahre und von dem Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben, der sich nicht von Vereinzelten durchsetzen lässt. Der aktuell düsteren Weltlage und ihren negativen Auswirkungen auf die Psyche trägt die Hängung einer Reihe von neuen Gemälden vor einem schwarzem Hintergrund Rechnung. Auch in den Bildern selbst ist Schwarz der vorherrschende Farbton. Die Protagonistinnen der überwiegend kleinen Formate sind meistens comicartige Hybridwesen, die Merkmale von Menschen, Tieren, Pflanzen oder Einzellern aufweisen und von denen manche, ähnlich wie in Sprechblasen, ihr jeweiliges Problem oder Symptom artikulieren.Am Eröffnungsabend findet eine Performance von Sophia Süßmilch statt, in der sie erneut mit ihrer Mutter zusammenarbeitet und bei der auch das Publikum zur Beteiligung eingeladen ist.

15 years of psychoanalysis and still no God in sight

The title of Sophia Süßmilch’s exhibition is a parody of both the duration and the meandering path of psychoanalytic treatment – which also present an opportunity to say it all. At the same time, it alludes to a midlife crisis situation. In the face of ‘being halfway through life’, a mixture of serious comedy and comic seriousness runs throughout the exhibition that features new works by Süßmilch (*1983).

The photographic motif used for the invitation card, Niki de Saint Phalle hat mein Leben ruiniert (Niki de Saint Phalle ruined my life) (2022), depicts the artist carrying an enormous inflatable rhinoceros on her back, complete with her mother seated on its back. Süßmilch confronts the audience with female nudity in a non-conventional mother-daughter portrait, which is made even more compelling by the inflatable animal’s resemblance to Niki de Saint Phalle sculptures. The question of the French artist’s ‘ruinous’ influence remains unanswered: she became known for not only her partly aggressive, partly popular feminist works, but also for making the abuse she suffered at the hands of her father public. This has, however, not prevented the trivialisation of her works, turning them into museum gift shop items – perhaps this is where Sophia Süßmilch sees the greatest danger.

Other photographic works also undermine clichés of female roles and aim at self-empowerment. Mysterious girl I wanna get close to you (2022) quotes a 1990s reggae hit by Peter André, whose music video exploited both male and female body ideals against an exotic backdrop; Welken (2022) refers self-ironically to the biological ageing process. Allein machen sie dich ein (2022), a photograph of several people wrapped in cloth and a mask, and thereby united into a single being, is a sign of empowerment. Allein machen sie dich ein is also the title of a song by Ton Stein Scherben and a film; both revolve around a squat in Berlin’s Kreuzberg district at the beginning of the 1970s and about the claim to a self-determined life that cannot be asserted by isolated individuals.

The current dark state of the global situation and its negative effects on the psyche are reflected in the hanging of a series of new paintings against a black background. The paintings themselves are also dominated by black. The protagonists of the predominantly small works are mostly comic-like hybrid creatures with human, animal, plant or unicellular characteristics, some of which articulate their respective problems or symptoms similarly to in speech bubbles.
A performance by Sophia Süßmilch will take place during the opening evening, in which she will once again collaborate with her mother and in which the audience is also invited to participate.
 

Sophia Süßmilch: Eins mit Mutter Natur


Wo du aber ja schon hier bist, kannst du ruhig die Schuhe ausziehen. Macht nichts, wenn die Zehen bisschen angeschwitzt sind. Ist ja Sommer, ist normal. Mach’s dir gemütlich, schau dich um. Nimm ruhig Platz. Fühl dich wie zu Hause.

Sophia Süßmilch malt nur noch ganz kurz hier diese Hand fertig. Wir haben unsere Sessel schon etwas näher zusammengerückt, das Aufnahmegerät läuft. Sophia Süßmilch soll Dinge über ihre Ausstellung sagen, aber so oft wie sie während der folgenden 40 Minuten an besagter Hand herumpinselt, liegt die Vermutung nahe, dass sie nicht so gern will, was sie soll. Weil sich derweil auch Anderes schaffen ließe.

Werde eins mit Mutter Natur. Knie danieder vor der Schöpfung. Bohr deine Fußballen in den Morast. Fühl mal, so matschig. Sieh mal, gleißend, die Sonne. Hör mal, Tiere, kopulierend.

Sophia Süßmilch ist weder eins mit der Mutter noch mit der Natur, aber man kann sich ja sicherheitshalber mal ins Laken gewickelt in den Baum hocken. Uhuuu macht der Uhu. Bisschen übern Waldboden rollen. Plumps. Vielleicht kommt es noch, dieses Gefühl, dass hier jetzt gerade alles ganz genau richtig ist. Und wenn nicht, ist’s eben ein guter Witz gewesen.

Schau, der Ursprung des Lebens. Der Leib, aus dem die Vielfalt geboren wurde, zerlegt in seine Einzelteile. Opfergabe, gebrochen und doch so mächtig, als er in seinen Nachkommen weiterlebt. Nen Gesicht, nen Bein, ne Titte.

„Ich mein das natürlich ironisch,“ sagt Sophia Süßmilch. Ja, klar. Sicherlich. Ironisch und auch ernst. Sophia Süßmilch fängt an mit dem, was ihr leichtfällt, macht weiter, wo sie Bock hat, und stellt am Ende fertig, was nicht weniger als ein Weltentwurf ist. Im Ausfüllen von Fläche Befriedigung finden. Im Ausstellen der eigenen Arbeit Räume öffnen. Man kann das Machtausübung nennen oder den tröstenden Gestus erkennen. „Magst du auch bisschen Rabarberschorle, Anna? Komm, trink das Wasser aus, kipp‘s schnell runter. Man soll eh viel trinken.“

Wo ist mein Platz in der Welt? Ist mir ein Platz in der Welt? Ich bin jemand. Ich bin jemand. Ich bin liebevoll. Ich will geliebt werden. Bedürftig sein, nie bedürftig sein wollen. Kannst du nicht einfach irgendein Mensch sein? Lieber aussätzig, aussätzig, aber überhöht.

Gestern erwog Sophia Süßmilch, Wurstfachverkäuferin zu werden – oder Guru.

Mit Wärme, Liebe und Humor gegen das ganze Diskursgeficke. Ich bin die gute Sophia, das Licht.

Text: Anna Meinecke

Exhibition Text

Sophia Süßmilch: Eins mit Mutter Natur

Since you are already here, please feel free to take off your shoes. Don ́t worry if your feet are a bit sweaty. It’s summer, it’s normal. Make yourself comfortable, have a look around. Take a seat. Feel right at home.

Sophia Süßmilch is just going to quickly finish painting this hand here. We have moved our chairs in a little closer together, the recording equipment is running. Sophia Süßmilch is supposed to say things about her exhibition but given how often she keeps casually adding brush strokes to the hand in question over the next 40 minutes, it’s pretty clear that she doesn’t really want to do what she’s supposed to be doing. Chances are that’s because there are other things that could be created in the meantime.

Become one with Mother Nature. Kneel down before creation. Dig the balls of your feet into the mire. Feel it, so squishy. Look, glistening, the sun. Listen, animals, copulating.

Sophia Süßmilch is neither one with mother nor with nature, but just to be on the safe side, why not squat in a tree, wrapped in a sheet. Hoot hoot goes the eagle owl. Roll around a bit on the forest floor. Thud. Maybe it will come, that feeling that everything here, right now, is just as it should be. And if it doesn’t, well then it was a good joke.

Look, the origin of life. The body from which diversity was born, disassembled into its component parts. Sacrifice, broken and yet still so powerful, as it lives on in its descendants. A face, a leg, a tit.

“I was being ironic, of course,” says Sophia Süßmilch. Yes, of course. Definitely. Ironic and serious, too. Sophia Süßmilch begins with what comes easily to her, continues on where she feels like, and in the end completes what is nothing less than a blueprint for a world. Finding satisfaction by filling up the surface. Opening up spaces by exhibiting one’s own work. You could call this an exercise of power or recognise the comforting gesture. “Do you want some rhubarb spritzer too, Anna? Come on, finish the water, drink it down. One is supposed to drink a lot anyway.”

Where is my place in the world? Is there a place for me in the world? I am somebody. I am somebody. I am loving. I want to be loved. Being in need, never wanting to be needy. Can’t you just be anyone? Better to be leprous, leprous, but elevated.

Yesterday, Sophia Süßmilch considered selling sausages to people – or becoming a guru.

With warmth, love and humour against all the discursive bullshit. I am the good Sophia, the light.

Text: Anna Meinecke Translation: Sophie Roberts

Sophia Süßmilchs Bibelzyklus


Stella Moser

Im malerischen Werk von Sophia Süßmilch ist sowohl der Duktus, als auch die Titelgebung von unverkennbarem Charakter. Im Jahr 2020 ist auf beiden Ebenen eine Qualitätssteigerung zu beobachten, die ihres Gleichen sucht. 
Der Leinwandhintergrund, der 2019 noch sehr hell und monochrom grundiert war, erhält allmählich einen blau-weißen Batik-Look und geht dann über in eine dichte Fläche aus einem Gemisch von dunkelblau und schwarz. Darauf finden sich dann in kräftigen Farben die verschiedenen Motive, die sich aufgrund des großen Farbkontrasts extrem vom Hintergrund abheben und dem Betrachter somit manchmal fast entgegenspringen.
Anfang 2020 mischen sich erstmals biblische Bezüge in Süßmilchs Malerei. Die Motive sind teils abstrakt und setzten sich aus wiederkehrenden Figuren, Wesen und Symboliken zusammen.

Das Bildthema offenbart sich oftmals erst im Titel und nicht im Bild selbst. Außerdem wird es an die Gegenwart adaptiert, wenn beispielsweise der „Einzug nach Jerusalem“ zum „Rave Truck“ wird. Weitere Titel lauten:

„Du sollst nicht Begehren deines Nächsten Weib, Fisch, Eis, Brot etc. pp.“, „Scheiss Wiedergeburt”, „Das letzte Abendmahl (Jesus steigt aus der Abschiedstorte)“, „If you wanna see God take a trip“

Die kunsthistorische Tradition von biblischen Darstellungen wird also nun zeitgenössisch von Süßmilch fortgeführt. Sie zeigt mit ihrem Bibelzyklus, wie unglaublich frei und geradezu erfrischend die malerische Auseinandersetzung mit historischen Bildthemen sein kann!

Diese Leichtigkeit entsteht durch ihren künstlerischen Ausdruck, der alles konventionelle und Altbackene ausschließt. In Welten, die oft nur aus unendlichen Wiederholungen bestehen, wird dadurch frische Luft gebracht. So ist auch der Bibelzyklus als ein Protest gegen ihr katholisches Dorf entstanden.

In Süßmilchs Gesamtkunstwerk gibt es immer wieder Verweise und Bezüge zur Kunstgeschichte. Auch hier herrscht ein unverfrorener Umgang, von einer Schwere ist nichts zu spüren. Die zeitgenössische Kunst muss für viele Menschen eine politische oder provokante Rolle erfüllen. Bei Sophia Süßmilch wird sie davon befreit. Es gibt nur die Entfesselung. So, wie wenn die Künstlerin der Kunst selbst die Kleidung auszieht, damit sie nackt, ausgelassen und freimütig herumtollen kann. „1,2,3, Apocalypse“.

GEBENEDEIT SEI DIE FRUCHT DEINES LEIBES


Ausstellung in der Galerie Petra Martinetz vom 4. September bis 17. Oktober 2020

An unserem Anfang steht der Körper, umgeben von einem anderen Körper. Ein erstes Fühlen und gefühlt werden, ein erstes Greifen und Begreifen. Schon umfasst ihn Gesellschaft, Religion und Kultur, halb beschützend, überhöhend, halb Besitz ergreifend, determinierend. Der nackte Körper, bald – nach Monaten einer fleischlichen Raumfahrt – ganz in der Welt, erfährt eine Zuschreibung des Geschlechts, wird in ein System integriert, mit Kleidern in Rosa und Blau umhüllt und verborgen. Eben noch ein Kind der Mutter, jetzt schon das einer mächtigen Struktur, erfasst durch den Staat, Frucht eines jeglichen Gottes. Das soll der neue Ursprung sein. Ganz bestimmt.

Kunst, nicht zur Produktion kultureller Artefakte, sondern als Prozess der Definition des eigenen Seins und des Verhältnisses zu den anderen. Das ist zumindest eine Möglichkeit, über die Sophia Süßmilch in ihren Arbeiten spricht. Performance, Malerei, Fotografie und Film umreißen den eigenen Ort, eröffnen ein eigenes Spiel, berichten von der eigenen Selbstverständlichkeit, dem eigenen Selbstverständnis, entgegen unerwünschter Vereinnahmung und bedrängender Übergriffigkeit. Freiheit.

Ein archaisches Ritual und ein Spiel, ein in seiner Fröhlichkeit provokantes Lachen, wider dem Ernst der Lage. Der Körper, ein wohl gehütetes und zu hütendes Geheimnis, vor allen enthüllt. Arme, Beine, Kopf, Brüste und Vagina – die Raumfahrerin und ihr Mutterschiff. Bemalt, tätowiert, mit Prothesen ergänzt und verwandelt, im Wald und im Studio, in fotografischer Dar-Stellung zueinander und uns. Der reale Körper spottet dem Ideal, wo Schönheit keine normierte Dinglichkeit, sondern bewegliche Empfindung ist. Wo Du bist und warst, kann und konnte ich sein.

Sind die Fotografien und Aktionen von Sophia Süßmilch von großer Unmittelbarkeit, konfrontativ und direkt, erschließt ihre Malerei einen rätselhaften Kosmos. Die Wesen, die bläuliche Sphären bewohnen, lösen sich weitgehend von der menschlichen Form. Der Körper kann zum Baguette, zum Brotlaib werden, an dem nährende Brüste und Zitzen Vitalität und Kraft spenden und zum Ausdruck bringen. Zugleich unter regnenden Wolken und tief unter Wasser. Offen zwischen Unschuld und Ironie die Titel, mit vielen klaren Verweisen auf einen Glauben, voll Streben nach Höchstem, im Schatten erfahrbarer Heuchelei. Die Magd sollte sich fügen, wenn wir sie wohlfeil Königin nennen, Stütze der Gesellschaft. Ist diese äußere Welt wirklich so säkular, wie sie uns erscheinen mag?

Die Prozesse der Transformation sind komplex und durchdringen die Schichten und Zeiten. Die Eigentumsverhältnisse sind noch nicht geklärt. Körper, Seele und Geist könnten in der eigenen Lebensspanne zurückerobert werden. Die Rezeption eines Aufbruchs der gefügten Gegebenheiten muss sich nicht wieder erschöpfen in erprobten Verfahren der Einordnung. Individuelle Mythologien, Feminismus oder Aktionskunst bieten einen historischen Kontext, verleiten aber auch zur Abwendung vom „Jetzt“. Sophia Süßmilch macht anschaulich, wie aus der Realität des eigenen Körpers Wirklichkeit erwächst. Der Wert der Dinge und Wesen wird aus sich selbst geboren und ist dennoch die Filiation dieser Urerfahrung „eins“ und dann „zwei“ zu sein. Sie sagt: Ich bin hier. Trotz dem! Oder weil dem so ist?

Thomas W. Kuhn, Rheydt im Juli 2020

Blessed be the fruit of your womb

At the beginning, our body is enclosed within another body. A first sensation, to feel and be felt, to grasp and to understand. Already enveloped in society, religion and culture, half protective, half overbearing, half possessive, determining. Soon – after months of a fleshly space flight – the naked body, wholly in the world experiencing an attribution of gender, is integrated into a system, encased and concealed in pink and blue clothes. Just a mother’s child, already the child of a powerful structure, seized by the State, the fruit of any God. That should be the new origin. For sure.

Art, not for the production of cultural artefacts, but as a process of defining one’s own being and relationship to others. That is at least one possibility, about which Sophia Süßmilch speaks in her work. Performance, painting, photography and film outline their own place, open up their own game, report on their own implicitness, their own self-conception, against unwanted appropriation and oppressive assault. Freedom.

An archaic ritual and a game, a laughter provocative in its cheerfulness, contrary to the seriousness of the situation. The body, a well guarded secret and one to be safeguarded, disclosed to all. Arms, legs, head, breasts and vagina – the astronaut and her mothership. Photographic representation to one another and to us. The real body mocks the ideal, wherein beauty is not a normative thing, but a flexible perception. Where you are and were, I can and could be.

Are Sophia Süßmilch’s photographs and actions extremely forthright, confrontational and direct, then her painting opens up an enigmatic cosmos. The beings that inhabit the bluish spheres are largely detached from the human form. The body can become a baguette, a loaf of bread, in which nurturing breasts and teats provide and express vitality and strength. Simultaneously under raining clouds and deep under water. The titles are an open mixture of innocence and irony, with many clear references to a belief full of striving for the absolute, in the shadow of experienced hypocrisy. The handmaiden should submit when we call her bargain queen, pillar of society. Is this external world really as secular as it appears to us?

The processes of transformation are complex and penetrate layers and times. The structure of ownership has not yet been settled. Body, soul and spirit could be reclaimed within one’s own life span. The reception of an outbreak of the established conditions does not have to be exhausted again in proven procedures of classification. Individual mythologies, feminism or action art offer a historical context, but also tempt us to turn away from the ‘now’. Sophia Süßmilch illustrates how reality arises from the truth of one’s own body. The value of things and beings is born of itself and yet is still the filiation of this primal experience of being ‘one’ and then ‘two’. She says: I am here. despite it! Or because of it?

Gleeful Cannibal


Sophia Süßmilch is aroused by herself, making her a disturbance to patriarchal sensibilities. She ploughs through serious discourse and the admiration that many a connoisseur has for art. The heat is on where ever her art can be seen, but it doesn’t burn all the way down. Her paintings and drawings are quickly put on display for all to see, regardless whether they are simple or complex, because her emphasis is on constant output. Stagnation would be like death. Her fervent artistic production tells the world “I am still alive”.

Her painting resembles illustrations for children’s’ books, especially due to her partiality for fleshy pink and sky blue tones. Her clearly outlined shapes are coloured in monochrome hues. Sophia Süßmilch loves it bold and simple. She simplifies complex psycho-landscapes without hesitation so that they appear as loud as an adventure playground. Her little gremlin-like, nearly human monsters walk the thin line between good and evil. Through these gleeful, colourful works emitting latent aggression, the compulsive obsessions of the grown-up world of the here and now appear. Hers is world very different from Maurice Sendak’s elaborate poetics; the really evil ones are here. These guys and gals grin sardonically and are weighed down by omnipresent sexual organs – a no -go in children’s books. The men have sexual organs which appear to be a pitiful burden. The women are depicted as prankish fertility goddesses, as gleeful cannibals who chomp up paternalist men with their huge teeth. Sophia Süßmilch’s universe is an anarchic, crazy, rumbustious matriarchal place which is dystopic in its view of male absurdity.

The aesthetic of her performance and photographic work is different though; realistic physicality abounds, there’s a sculptural quality in contrast to the multi-coloured cosmos. Süßmilch’s art is then more direct, more challenging and relentless. She provokes those viewing the work. Her body is then part and parcel of the art and she works with it, altering her body, writing or painting on it, even gluing things on to herself. Her treatment of her own body is exhibitionist: in the one case, she appears to be under a voodoo spell. She presents herself with a dose of self-irony in these body-oriented works, as a shrill clown able to mutate. Viewers often find the laughter stick in the throat.
Often, elements of Süßmilch’s own biography inspire her art. Reshaping of her family history becomes a work of art with her mother as a co-performer, the second piece on display. In one case, Sophia Süßmilch takes on the role of the child, psychoanalysing, blending patient and therapist into one figure. Her aesthetic statements are not carefully formulated but, in contrast, powerful performative cannonballs full of intuitive intelligence. Her choice of titles or use of pictures and text fragments, result in hilariously comic works which, on closer examination, also contain existential depth. The artist realised, for example, photographic works dealing with death, ageing and loneliness which are considerably quieter. These do not show images of the outside world or nature, but focus on dark interiors. The protagonists appear more fragile and the artist herself seems filled with sadness therein.
For Sophia Süßmilch, female sexuality is visible in rituals. Uninhibited, without respect and challenging, her lustful approach evokes works by Cathy Acker, Gina Pane, Carolee Schneemann, Lynda Benglis, Valie Export and other female artists who inspired her. She also, repeatedly, mentions male role models too, like Alexander Kluge and David Foster Wallace. Despite all of her intellectual pursuits, she appears fond of abrasive populism, excess and absurdity reminiscent of Herbert Achternbusch’s films, such as his early work, Oktoberfest – Schichtl or of cabinets of the abstruse by Karlstadt and Valentin, using subversive poetry mixed with bad behaviour rankness.
Sophia Süßmilch is gender-conscious and politically incorrect, unideological and feminist, anything but subtle and heroic, without any semblance of good taste and magical and combination of both Maya the Bee and Poison Ivy. Chock-full of contradictions, unpredictable and full of surprises.
She was my student and one of the reasons why I enjoyed being a professor.
Stephan Huber
(English translation: Deborah Phillips)

Fröhliche Kannibalin


Sophia Süßmich ist ein sich selbst erregender Zustand, eine Störung der patriarchalen Besinnlichkeit. Sie pflügt eine Schneise durch seriösen Diskurs und connaisseurhaftes Kunstinteresse. Die Betriebstemperatur ihrer Kunst liegt im roten Bereich, doch sie verglüht nicht. Ihre Bilder und Zeichnungen drängen sofort an die Öffentlichkeit – komplex oder simpel – Hauptsache permanenter Output! Stillstand wäre Sterben. Ihre Realisierungsvehemenz ist ihr „ I am still alive“. Ihr malerisches Werk hat Affinität zu Kinderbuchillustrationen. Deutlich wird dies in den Vorlieben für das fleischliche Rosa und das Himmelblaue. Die klar umrissenen, linearen Formen werden zumeist mit monochrom farbigen Flächen koloriert. Sophia Süssmilch liebt das Plakative. Sie vereinfacht ohne Skrupel komplexe Psycholandschaften zu lauten Abenteuerspielplätzen. Ihre gremlinartigen kleinen Menschmonster sind Grenzgänger zwischen Gut und Böse. Durch die fröhlich bunten Oberflächen hindurch strahlen jedoch die latent aggressiven und triebhaften Obsessionen der Erwachsenenwelt des Hier und Jetzt. Es ist nicht die elaboriert poetische Maurice Sendak – Welt, sondern ein Territorium, in dem die richtig bösen Kerle wohnen. Ihre Kerl(innen) grinsen hämisch und sind beschwert mit omnipräsenten Geschlechtsteilen, einem No – Go in der Kinderbuchwelt. Bei den Männern zeigt sich Sexualität als bemitleidenswerte Bürde, bei den Frauen fruchtbarkeitsgöttinnenhaft verspielt. Süßmilchs Frauen sind fröhliche Kannibalinnen, ich vermute, sie fressen mit ihren großen Zähnen am liebsten paternalistische Männer. Sophia Süßmilch schafft ein anarchistisch abgedrehtes, ein am liebsten paternalistische Männer. Sophia Süßmilch schafft ein anarchistisch abgedrehtes, ein ausgelassenes Matriarchat und eine dystopische Welt der männlichen Lächerlichkeit. In ihren Performances und Fotografien ändert sich der ästhetische Ausdruck, eine realistische Körperlichkeit und damit eine skulpturale Präsenz tritt anstelle des bunten Kosmos. Ihre Kunst wird unmittelbarer, fordernder und schonungsloser, sie wirkt provokativer. Ihr Körper ist nun das Werkstück, das sie bearbeitet, verändert, beschriftet, bemalt oder beklebt, exhibitionistisch benutzt, voodoomässig verwünscht oder sexuell nobilitiert. Obwohl sie auch in diesen Arbeiten zum schrillen Clown, mit einem hohen Maß an Selbstironie, mutieren kann, bleibt dem Betrachter das Lachen des öfteren im Halse stecken. Es ist sehr oft Süßmilchs eigene Biografie, aus der ihre Kunst schöpft. Bei der Umformung der familiären Geschichte zur Kunstform wird ihre Mutter manchmal ihre Co – Performerin, sie ist dann ihr zweites Werkstück. Nun schlüpft Sophia Süßmilch in die Rolle des Kindes und ihre Arbeiten erscheinen wie Psychoanalyse – Sitzungen, in denen Patient und Therapeut verschmelzen. Ihre ästhetischen Statements sind nicht feinziselierte Hochkulturereignisse, sondern wuchtige performative Arschbomben voller intuitiver Intelligenz. Verstärkt durch ihre Titel oder bildimmanenten Textfragmente entstehen mitunter zum Brüllen komische Arbeiten, die auf den zweiten Blick auch existenzielle Tiefe in sich tragen. Ihre Fotos zu Tod, Alter und Einsamkeit sind leiser. Sie zeigen nicht mehr Außenraum oder Natur, sondern düstere Interieurs. Die Protagonisten wirken zerbrechlicher, die Künstlerin selbst scheint von Traurigkeit durchwirkt. Bei Sophia Süßmilch ist weibliche Sexualität rituell verdichtet. Die ungehemmte, respektlose und herausfordernde, lustvolle Arbeitsweise hat in Cathy Acker, Gina Pane, Carolee Schneemann, Lynda Benglis ,Valie Export und vielen anderen Künstlerinnen ihre Vorbilder. Als männliche Anregungen benennt sie immer wieder Alexander Kluge und David Foster Wallace. Das ruppig Volksfesthafte, der Exzess und die Absurdität, wie in den Filmen Achternbuschs, dem frühen Oktoberfest – Schichtl oder den Abstrusitätenkabinetten von Karlstadt und Valentin mit ihrer subversiven Poesie und der bad – behavoiur Derbheit scheinen ihr neben aller intellektuellen Auseinandersetzung sehr zu gefallen. Sophia Süßmilch ist genderaffin und politisch unkorrekt, unideologisch und feministisch, platt und heroisch, geschmacklos und bezaubernd, Biene Maja und Poison Ivy. Voller Widerspruch, unberechenbar, und überraschend. Sie hat bei mir studiert. Sie war einer der Gründe, warum ich meine Professur mochte. Stephan Huber

Lisa Moravec zur Ausstellung „Kokon“


Sophia Süßmilch
Kokon

Von Lisa Moravec

Das menschliche Leben ist voller Abstraktionen. Auf einen Seinszustand folgt der nächste. Metamorphose, der Prozess des Werdens, die Bewegung von einer bestimmten körperlichen Beschaffenheit zu einer anderen, ist ein unendlicher, aber nicht ausschließlich linearer Prozess. Ein Kokon ist eine vorübergehende Hülle, die ihren Inhalt nährt und schützt, bevor sie aufbricht und das Leben freisetzt, dem sie geholfen hat heranzuwachsen. Ein Kokon bietet einen temporären Zufluchtsort, nährt und schützt dessen Inhalt, bevor er aufbricht und das Leben freisetzt, dem er geholfen hat heranzuwachsen.

Obwohl Sophia Süßmilch sich in ihrer neuesten Arbeit mit dem Kokon im wortwörtlichen Sinne auseinandersetzt, gibt es keinen echten Kokon in dieser Arbeit. Vielmehr stellt sie mit ihren Fotografien und Malereien einen suspendierten Seinszustand dar; es ist, als ob sie innehält und zurückblickt, um die Vorstellung des Werdens, des Sich-selbst-Überholens aufrecht zu erhalten.

Damit wagt sie sich an den Kokon tatsächlich heran und schiebt die metaphorisch komplexe Bürde, die zwischen zwei Seinszuständen steckt, beiseite. Ihre triptychonartige Comic-serie Three Stages of Life (2019) beschäftigt sich mit der eindringlichen Frage, wie Kindheit, Pubertät und Erwachsensein miteinander verwoben sind und enthüllt die jeweiligen Klischees aus der Warte des fleischlich Inneren. Sie präsentiert drei unterschiedliche frühe Lebensphasen, die der abstrakten Menschwerdung eine körperliche Gestalt geben; und gleichzeitig schickt sie eine gewisse Doppeldeutigkeit voraus. Die lebendige, bewegliche Raupe in Mediocre Childhood baut einen Kokon um sich in Fuck Puberty, um dann zu einem sorglosen, stacheligen Schmetterling zu werden, der sich in Depressing Adulthood durchschlägt.

Was Süßmilch mit Erwachsensein meint, wird in ihren sexuell aufgeladenen Fotografien klarer. In Teddy’s Girl sitzt sie gemütlich im aufgeschnittenen Bauch eines 2,40 Meter großen Teddybären, ihre Beine sind über die Beine des Teddybären gespreizt und ihre Brüste ragen über ihrem engen Bodysuit hervor. In dem Foto, A mother is the mother of all problems, stellt sie das Gegenteil ihrer Haltung zur elterlichen Erziehung dar: über ihre biologische Mutter gebeugt, umhüllt sie sie mit den langen Haaren ihrer zotteligen, blonden Perücke. Den Te(Da)ddy eher in den Mittelpunkt stellend als ihre bedeckten Mutter, ist Süßmilch selbst in Real feminists hate dicks mit einer Halskrause aus Bananen zu sehen, die ihren Kopf komplett einkrönt. Obwohl das Bild einer Appropriation von Josephine Bakers berühmten Bananenrock-Tanz gleichkommt, eine bewusst erotisierende und objektivierende Performance einer schwarzen Frau, parodieret Süßmilch hier ein eurozentristisches Bild des Phallus, und legt noch zusätzlich eine ungeschälte süße Frucht zwischen ihren Beinen – ihre eigene Version eines Törtchens, das noch verzehrt werden soll.

Das Bild Placenta Paradise nagt an der Körperlichkeit der Organe. Freihängende, ausgebreitete kugelförmige Placenta sind in verschiedenen Formen, Größen und Farben gemalt und sehen jeweils unterschiedlich aus. Süßmilchs fleischige Eingeweide scheinen keiner Logik zu folgen und die figurativen Organe bestehen nur aus einer abstrakten Leber, zu groß oder zu klein geratenen Gedärmen, undefinierbaren Gallenformen, kleinen Mägen und Lungen. Chaos, in Ordnung – die Formen ihrer Organe erscheinen buchstäblich abstrakt.

Trotz ihrer agitierenden Direktheit übertragen und performen Süßmilchs Arbeiten tiefgreifende ästhetische Erfahrungen auf Leinwand oder Fotopapier. Sie beugen körperliche Aha-Momente, wie etwa das psychedelisch bunte Bild einer abstrakten Figur auf schwarzem Hintergrund mit dem Titel Ich war noch nie beim Yoga oder neoliberale Waffen des Spätkapitalismus und die romantische Farbpaarung von Blau und Gelb innerhalb einer ovalen Farbfläche zeigen das Haus einer rosa Schnecke, die zum linken Bildrand riecht. Süßmilchs ironischer Humor ist durchwoben mit melancholischen und aggressiven Strängen, so wie das Bauchgefühl gegen die eigene kosmisch spürbare Tierhaftigkeit des Menschen antreibt. Der Versuch Sophia Süßmilchs Arbeiten allegorisch zu lesen, das heißt, die Aufmerksamkeit auf die Art der Verbindung, die sie zwischen zwei Dingen herstellt, lebend oder unbewegt, dokumentierend oder abstrakt, veranschaulicht einen tief in den Gedärmen sitzenden Widerstand gegen die Transformation in eine andere Mutter; ihr Werkkörper zeigt nichts Anderes als ihr eigenes begehrendes Selbst.

Übersetzung: Dr. Mandana Taban


Kokon

By Lisa Moravec

Human life is full of literal abstractions. One state of being precedes the next one. Metamorphosis, the process of becoming, the move from a particular bodily state to another is an infinite but not solely linear process. A cocoon temporarily provides shelter, nurtures and protects what is inside, before splitting open and setting free the life it has helped to grow. Although Sophia Süßmilch’s recent work approaches the cocoon from a literal point of view, there is no real cocoon in her work. Instead, she performs a suspended state of being with her photographic and painted works; it is, as if she looks back to sustain the imagination of becoming, of moving ahead of oneself.

In doing so, she tackles the cocoon for real and casts aside its metaphorically complex burden of being in between two states. Her triptychonic comic series Three Stages of Life (2019) takes up the haunting issue of how childhood, puberty and adulthood are connected and exposes their clichés from a fleshly inside. She depicts three distinct early stages of life that give form to abstract bodily ways of human becoming; simultaneously, she also anticipates a certain kind of ambiguity. What was once a lively eating and moving caterpillar in Mediocre Childhood, raps itself up in a cocoon, entitled Fuck Puberty, before becoming a carefree, prickly butterfly making its way through Depressing Adulthood.

What adulthood means for her becomes clearer in her highly sexually-charged photographic works. In Teddy’s girl, she sits comfortably inside a gashed 2.40m high teddy bear, with her legs straddled over the teddy’s legs and her breasts pulled over her tight nude bodysuit. A completely opposite attitude towards her parental upbringing is staged in the photo, A mother is the problem of all problems, where she bends over her biological mother, enveloping her with a long-ragged blonde hair wig. Emphasising te(da)ddy rather than her smothering mother, Süßmilch depicts herself in Real feminists hate dick with a banana ensemble arranged to a banana crown that frames her whole head. Although this seems to appropriate Josephine Baker’s famous banana skirt dance, an intentionally eroticised and objectified performance of a black women, Süßmilch parades here the Eurocentric image of the phallus, and puts an additional unpeeled piece of this sweet fruit in between her legs—her own version of cake, that is yet to be eaten.

The painting Placenta Paradise chews on the bodily states of organs. Freely hanging and spread out globules of placenta are painted in different shapes, sizes, and colours that look all different. Süßmilch’s fleshly entrails do not seem to follow any logic, as the figurative body organs are composed only of abstracted livers, too large or small intestines, undefinable forms of biles, spleens, small guts, and lungs. Chaos in order, her organs are literally abstract in form.

Despite the agitating literalness that is at play in these images, Süßmilch’s works translate and perform visceral aesthetic experiences onto cotton and photographic paper. They diffract bodily aha-moments; for example, the psychedelically coloured painting of an abstract figure painted against a black background calls yoga the neoliberal weapons of late capitalism, whilst her romantic colour coupling of blue and yellow within one field of colour depicts the shell of a pink snail moving towards the left boarder of the picture plane. Süßmilch’s tongue-in-cheek humour is enmeshed with a melancholic and aggressive strain as the gut feeling is the drive that moves against its own cosmically sensed human animality. Reading Sophia Süßmilch’s work allegorically, which means to draw attention to what kind of bond she establishes between two things, living or still, literally documented or abstractly real, demonstrates an intestinally rooted resistance towards becoming another mother; her body of work shows nothing but her very own desiring self.